soziale stadt - bundestransferstelle

Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit
besonderem Entwicklungsbedarf - Soziale Stadt"

"Dinner-Speech"

Prof. Dr. Michael Krautzberger,
Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

  

I. | II. | III. Schlussbemerkung

I.

  1.

Stadt ist die prägende Lebensform - Aber haben wir in Deutschland eine Stadtpolitik?

  2.

Nicht anders ist es bei weiteren wichtigen Lebensbereichen: Unsere Umwelt wird von Gebäuden bestimmt - Architekten und Ingenieure sind es, die unsere Wahrnehmung von der Welt bestimmen, soweit sie nicht naturbelassen ist.

a)

Aber wer kümmert sich um Architektur?

b)

Der öffentliche Bauherr hat wenigstens offene Wettbewerbe.

c)

Aber welche Qualitätsmerkmale hat er, außer dem Vertrauen auf Jurys?

  3.

Welche Diskussion über den Stellenwert von Architektur gibt es? Welche Art von Architektur ? Wir geistern hier jedenfalls in Deutschland herum. Man kann nur wehmütig an die Zeiten eines Bauhauses in den 20er-Jahren oder an die Schule von Chicago denken.

  4.

Dabei sind wir das "Volk der Architekten": 110.000 Architekten - nur 35.000 in vergleichbaren Ländern.

  5.

Oder zur Stadt: Die kompakte Stadt, die Vermeidung der Zersiedelung, die Stadt der kurzen Wege, attraktive Städte mit hoher kultureller Attraktivität, mit Handelsangeboten, mit ausgewogener sozialer Mischung - das fordern alle. Aber wie ist die Wirklichkeit? Tatsächlich entstehen gerade in den zurückliegenden Jahren immer mehr monofunktionale Einheiten. Die Abwanderung in das Umland ist der einzig wirklich ungebrochene Trend - selbst in Ostdeutschland, wo die Bevölkerung ansonsten schrumpft.

  6.

Auch hier fehlt es an einer wirklich politischen Diskussion.

  7.

Ist vielleicht die Politik überfordert? Geht es nicht vielmehr um ein gesellschaftliches Anliegen? Und geht es nicht um ein Anliegen derjenigen, die bauen - die Bauindustrie einerseits, aber noch mehr die Wohnungswirtschaft, die ja für die große Mehrzahl der Gebäude Verantwortung trägt?

  8.

Und wie reagieren wir auf eine schrumpfende Bevölkerung?

a)

In Ostdeutschland ist es ja evident - aber was fällt uns anderes ein, außer "Abriss"?

b)

Da wollen die Unternehmen von ihren Altschulden weg - wer könnte das nicht verstehen.

c)

Die Gemeinden wollen von ihren Gewährleistungsansprüchen bei kommunalen Wohnungsunternehmen weg.

d)

Und die Länder wollen von ihrer Gewährleistung für die Kredite der Landesaufbaubanken weg.

e)

Und brauchen wir nicht umfassende Stadtentwicklungskonzepte, die nicht nur von Stadtplanern auf dem Schreibtisch entworfen und von politischen Gremien, von den nur wenige Menschen repräsentierenden politischen Parteien, beschlossen werden, sondern die von den tragenden Säulen der Stadtgesellschaft getragen werden: den Unternehmern, der Wohnungswirtschaft, der Wohnbevölkerung, der arbeitenden Bevölkerung.

f)

Wenn man die schrumpfende Stadt hinwenden will zu einer sich wieder stabilisierenden, kompakten Stadt, einer Stadt, die die Infrastruktur von morgen aufweist und die Angebote für Arbeitsplätze und Wohnungen für die nächste Generation bietet, dann müssen daran alle mitwirken.

g)

Und es muss zwischen der Stadt und ihren Umlandgemeinden eine Abstimmung finden: Was hilft es, in Chemnitz abzureißen, wenn im Nachbarort die Eigenheimsiedlungen entstehen?

  9.

Die Städte allein ersticken in ihren aktuellen Problemen: Die aktuelle "Hitparade" der Hauptprobleme der Stadtentwicklung, die alljährlich vom Difu vorgelegt wird, wird angeführt von Kommunalfinanzen, Haushaltskonsolidierung, kommunaler Wirtschaftsförderung, Arbeitsmarkt.

10.

Denkt die öffentliche Hand noch in alten Bahnen? Wenn es z.B. um die Frage der Bodennutzung geht, dann diskutiert die Politik seit Jahrzehnten die Frage, wie man Bodengewinne abschöpfen oder doch zumindest besteuern kann. Da stehen sich im Grunde keine Parteien einander im Wege. Wenn aber die Frage der Wiedergewinnung von Stadtqualität damit zusammenhängt, dass ich Flächen intelligent nutze, dass ich die gewaltigen Massen an freiwerdenden Liegenschaften - die Bahn, das Militär, die Gewerbeflächen, die Post - nutzen will, dann muss ich auch über Anreizsysteme nachdenken.

11.

Wir neigen dazu, entweder zu besteuern oder massiv Direktprogramme zu machen. Warum schaffen wir nicht Anreize für eine radikale Flexibilisierung des Bodenmarkts: Also Steuerfreiheit, wo es um Nutzung von Konversionsflächen geht, wo es um städtebauliche Verträge der Gemeinden geht, wo es um freiwillige Erschließungen durch die Eigentümer geht usw.?

12.

Damit ist man bei dem Thema der Zusammenarbeit zwischen der Politik und dem, was man den "privaten Sektor" nennt - also genau genommen 100 Prozent der Bevölkerung, denn auch jeder Politiker und jeder Beamte ist ja zugleich "Privatmann".

13.

Es bilden sich immerhin - und das ist sehr positiv zu bewerten - hier seit mehreren Jahren neue Ansätze heraus: Public-Private-Partnership ist kein Fremdwort mehr.

14.

Der Siegeszug der Verträge, gerade auch der städtebaulichen Verträge, ist dafür ein guter Beleg.

15.

Und das ist auch nötig in einem Volk der "Streithansel": Nirgendwo gibt es so viele Richter pro Kopf der Bevölkerung wie in Deutschland.

16.

Dann müssen wir aber auch die faire Verhandlung zwischen der Stadt und ihren Bürgern neu bestimmen: Wir neigen in Deutschland dazu, Verfahrensregelungen eher gering zu schätzen. Verstößt man bei einer Planung gegen eine Verfahrensregelung, dann ist diese im Zweifel unschädlich.

17.

Ganz anders verhält man sich da in Großbritannien oder in den Vereinigen Staaten: das faire Verfahren ist eigentlich das Zentrale. Wird ein Verfahren fair durchgeführt, dann vertraut man vielfach darauf, dass auch das Ergebnis gerecht ist. Jedenfalls kann man es so besser tolerieren.

Natürlich müssen Mindeststandards gewahrt werden - aber bei uns tritt dies in den Vordergrund und ist nicht gewissermaßen die gemeinsame Basis für Kooperation.

18.

Ein typisches Beispiel ist unsere negative Haltung zur Bürgerbeteiligung, zur Verbändeklage, zur Umweltverträglichkeitsprüfung, zur Umweltinformation, zur transparenten Verwaltung, zur Offenlegung der Daten usw.

19.

Wir haben eine Bürgerbeteiligung bei der städtebaulichen Planung - aber wer versteht schon einen Bebauungsplan, sicherlich nicht mehr als ein Promille der Bevölkerung.

20.

Aber den Bauantrag des Nachbarn würde man durchaus verstehen! Gerade dieses Verfahren soll ja möglichst ohne Beteiligung der Öffentlichkeit stattfinden - die Folgen sind eine unglaubliche Zahl von Prozessen.


II.

Und damit komme ich zum Thema Soziale Stadt. Ich denke, gerade da setzt auch das Programm Soziale Stadt an.

  1.

Lassen Sie mich beginnen mit einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach im Auftrag des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln.

  • Bundesweit haben nur knapp 40 Prozent aller Befragten eine gute Meinung von der sozialen Marktwirtschaft.


  • Nur 43 Prozent empfinden sie als gerecht.

  • Zwei Drittel der Befragten gehen davon aus, dass es den Unternehmen vor allem darum geht, Kosten zu reduzieren und Gewinne zu maximieren - und dass dabei Arbeitsplätze auf der Strecke bleiben.

  • Mehr als 40 Prozent der Bundesbürger träumen von einem neuen Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

  • Dabei geben wir in Deutschland rund ein Drittel des Bruttoinlandprodukts für soziale Sicherung aus - mehr als die meisten anderen Länder in Europa.

  • Aber es wird vom Terror der Ökonomie oder von der Globalisierungsfalle gesprochen.
  • "Es wird globaler, das Nationale spielt immer wenige eine Rolle" - das meinen 52 Prozent der Bürger.

  • Und so sehen 71 Prozent der Menschen zunehmend Unsicherheiten und Risiken auf sich zukommen.

  • Klaus Töpfer hat auf die Globalisierung eine Antwort gefunden: Er sprach von der "Glokalisierung".

  • Damit meinte er, dass der Globalisierung als generellem Trend ebenso stark entgegengesetzt würde eine Verwurzelung im Lokalen, in der Region.

  • Das heißt aber: Verwurzelung, Bindung an der Region, an die Stadt, an das Viertel, an das Umfeld gewinnen.
  2.

Der niedersächsische Ministerpräsident Sigmar Gabriel hat in der vergangenen Woche vor dem Institut der deutschen Volkswirtschaft in Köln das bürgerschaftliche Engagement als zentrale Ressource der Zukunftsgestaltung bezeichnet. Er hat an den berühmten Satz von J. F. Kennedy erinnert: "Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst."

Das ist ja nichts anderes, als eine zeitlose Definition von Sozialkapital.

Im Grunde geht es um etwas gar nicht so anderes, wie Leitbilder für die lokale Entwicklung zu finden. Leitbilder - das wissen Sie aus der Wirtschaft ebenso gut wie aus dem öffentlichen Bereich - können nicht von oben entwickelt werden, sie müssen "von unten" formuliert und gestützt werden.

  3.

Soziale Stadt ist also das anspruchsvolle Programm für die lokale Zivilgesellschaft.

  4.

Nun noch einiges Näheres zu dem Programm Soziale Stadt. Herr Dr. Löhr hat die Grundzüge heute schon dargestellt und ebenso weitere Referenten.

  5.

Ausgangspunkt: Auch in Deutschland reden wir inzwischen darüber, dass wir Stadtgebiete haben, die offenbar dabei sind, stigmatisiert zu werden.

  • Wir hatten das Problem nicht so ausgeprägt schon in den zurückliegenden
    10 bis 15 Jahren in Großbritannien, in den Niederlanden oder in Skandinavien.

  • Konzentration von sozialen Problemen in bestimmten Stadtgebieten: Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, Ausländerprobleme (aggressiver in Frankreich und den Niederlande; Aggression zwischen Ausländern und Einheimischen).

  • Aus der Beobachtung einer zunehmenden sozialen Stigmatisierung ist Ende 90er-Jahre das Programm Soziale Stadt entwickelt worden: gemeinsam von allen 16 Länderministerien und dem Bundesstädtebauminister.
  6.

Was sind in Deutschland die Probleme in den Gebieten der Sozialen Stadt:

  • sozial schwache Bevölkerung, Segregation, Arbeitslosigkeit, Einkommensdefizite, Kriminalität und Vandalismus,

  • Zukunftserwartungen von Jugendlichen, die in diesen Bereichen einen höheren Anteil haben, aber geringere Chancen haben als in anderen Vierteln.
  7.

Die Programmgebiete, die wir jetzt fördern, bestätigen dies:

  • In diesen Gebieten weist in Westdeutschland die Arbeitslosigkeit im Schnitt 20 Prozent auf, also deutlich über den Durchschnitt der westdeutschen Städte.


  • Auch in den ostdeutschen Städten liegt die Arbeitslosigkeit mit über 20 Prozent oberhalb des Durchschnitts ostdeutscher Städte.


  • Nichts anderes gilt für den Ausländeranteil, der in diesen Gebieten in der Regel doppelt so hoch ist (Ost und West).
  8.

Die Städtebauförderung hatte 1971 einen sozialen Ansatz: Sozialplan, Bürgerbeteiligung.

  • Aber ist daraus nicht ein Programm der Förderung von Bauinvestitionen oder der baulichen Verschönerung geworden?


  • Und die Sanierungsgebiete von gestern sind mitunter sogar die sozialen Kulminationspunkte von heute: Kottbusser Tor in Berlin als Beispiel.
  9. Aber die Städtebauförderung hat gute Ansätze: die Konzentration auf ein Gebiet, das Ausschöpfen einer breiten Zusammenarbeit mit öffentlichen Trägern, die umfassende Bürgerbeteiligung, die kommunale Steuerung von Programmen.
10.

Die sozialen Probleme in den Städten, aber auch die Entwicklung der Bürgergesellschaft lassen sich nicht mit einzelnen Programmen erreichen:

  • Es gibt in Deutschland für fast alles eine Förderung, vom Kindergarten, von der Arbeitsbeschaffung bis hin zur Unternehmensgründung, dem Denkmalschutz und der Konversion.


  • Aber was nahezu unmöglich scheint, ist das Zusammenführen der verschiedenen Fördermöglichkeiten.
11.

Dies ist auch eine Folge unserer höchst dezentralen und arbeitsteiligen Organisation.

  • Sie hat viele Vorteile und spiegelt unsere historische Stadt- und Regionalstruktur wider, stärkt auch unsere Wettbewerbsfähigkeit, erhöht die Lernfähigkeit aus Fehlern und erhöht damit den Wettbewerb.


  • Aber bei der Lösung komplexer Probleme scheitert sie.


  • Wir sind organisiert nach dem Motto des 19. Jahrhunderts: Ressortverantwortung wie einzelne Tortenstücke.


  • Wenn es um wichtige Probleme geht, dann werden sie immer schnell Chefsache, da müssen runde Tische organisiert werden, dann werden Projektgruppen organisiert usw.


  • Dies zeigt, dass für die eigentlichen Problemfälle - und sie nehmen zu - unsere Organisationsstruktur nicht ausreicht.


  • Fehlt die Kompetenz "für das Ganze"?
12.

Soziale Stadt will daher auch Anreize für Kooperation, Belohnung für Kooperation schaffen.

13.

Ob es so weit kommt, wie die Niederlande, wo runde Tische entscheiden?

14.

Ob Fördermittel künftig nur dann vergeben werden, wenn mindestens vier oder fünf oder sechs weitere Fördermittel beteiligt sind?

15.

Und die Beteiligung des privaten Sektors? Welches Engagement übernimmt die lokale Unternehmerschaft? Welche Patenschaften für die Jugend werden von der Privatwirtschaft getragen?

16.

Beispiele aus England: der Schulleiter oder Leiter eine Polizeidienststelle als Moderator der sozialen Netze.

17.

Die Wohnungsunternehmen spielen vielfach eine Schlüsselrolle:

  • sie sind Eigentümer und Vermieter;


  • sie kennen die lokale Situation wie kein anderer;


  • sie haben aus wirtschaftlichen Gründen ein Interesse nicht nur am Zustand der Wohnung, sondern auch am Wohnumfeld, denn der Wert von Grundstücken liegt, wie man so sagt, erstens an der Lage, zweitens an der Lage und drittens an der Lage.
18.

Das heißt aber auch mit den öffentlichen Verwaltungen umdenken: nicht ein oben nach unten, nicht eine Einbahnstraße, sondern eine Offenheit in der Teilung von Verantwortung.


III. Schlussbemerkung

Die soziale Stadt - das ist ein Kennerthema, das nicht dem Staat oder den Städten vorbehalten ist. Das ist ein Thema der Bürgergesellschaft.

Die Stadt ist die europäische, die deutsche Lebensform.


  
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