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soziale stadt - bundestransferstelle

Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit
besonderem Entwicklungsbedarf - Soziale Stadt"
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Schule öffnet sich zum Stadtteil
Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck

Harald Lehmann,
Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck (EGG)

Die Evangelische Gesamtschule in Gelsenkirchen-Bismarck wurde sehr bewusst so konzipiert, dass sie auch architektonisch als Stadtteilschule fungieren kann. Träger ist die Evangelische Kirche von Westfalen. Die Idee zu dieser Schule reicht bis in die 80er-Jahre zurück. Die Realisierung ließ aufgrund von Finanzproblemen länger auf sich warten, als man sich das eigentlich gewünscht hat. 1998 hat die Schule schließlich ihren Betrieb aufgenommen.

Die Intentionen dieser Schule finden sich in der Grundstein- Urkunde. Es werden insgesamt drei benannt: "Die Evangelische Kirche von Westfalen", so heißt es da, "möchte mit dem Betrieb der Gesamtschule in einem Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf ein Zeichen der Hoffnung setzen und mithelfen, Jugendliche auf die Bewältigung drängender Probleme unserer Zeit vorzubereiten." Daher sollen drei Schwerpunkte die pädagogische Arbeit bestimmen. Der eine ist das interkulturelle Lernen. Dazu heißt es: "Die Schule soll ein Ort der Begegnung sein und das friedliche Zusammenleben von Heranwachsenden einüben, die aus verschiedenen Nationen stammen und unterschiedlichen Religionen angehören." Ökologie ist als zweiter Schwerpunkt genannt: "Die Schule soll ein ökologischer Lernort sein und Jugendliche befähigen, die den Menschen anvertraute Schöpfung zu bewahren." Und der dritte Aspekt ist eben der der Stadtteilschule: "Die Schule soll sich gegenüber dem Stadtteil öffnen und zu einem kulturellen Zentrum werden."

Das Umfeld in Gelsenkirchen-Bismarck ist gekennzeichnet durch eine extrem hohe Arbeitslosenquote, die höchste innerhalb Gelsenkirchens - und Gelsenkirchen steht unter den westdeutschen Städten an der Spitze -, durch einen hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, durch massive Bevölkerungsverluste. Allein in Bismarck hat es einen Rückgang von 25 000 Personen im Jahr 1961 auf 17 500 im Jahr 2000 gegeben. Rechnet man die Migrationsbewegung ein, dann kann man sagen, dass die grundständige Bevölkerung in einem noch viel größeren Maße weggezogen ist.

Bismarck und der benachbarte Stadtteil Schalke-Nord, die zusammen ein Entwicklungsgebiet bilden, verloren innerhalb weniger Jahre rund 8 000 Arbeitsplätze. Bis zur Schließung Mitte der 90er-Jahre war die Schachtanlage der Zeche "Konsolidation" der größte Arbeitgeber in Bismarck. Zwei Bilder zeigen diese Veränderung. Sie sehen auf dem einen Foto von 1961 den Kern Bismarcks, eine Industrielandschaft. Das gleiche Motiv im Jahr 2000 sieht so aus: Stehen geblieben ist der Förderturm, um ihn herum gibt es ein Theaterprojekt, ein Geschäftsobjekt; den Rest hat man zu einer begrünten Halde gemacht, aber gleich am Rande liegt der "Straßenstrich". Die EGG, so sagen viele, ist mittlerweile ein Leuchtturm im Stadtteil, eine so genannte Magnetschule. Das war, als sie gegründet wurde, durchaus nicht absehbar. In den letzten drei Jahren gab es aber bei den Anmeldungen für das neue Schuljahr jeweils über 320 Bewerbungen für insgesamt 150 Plätze im Jahrgang 5. Und als wir im letzten Jahr erstmals in die Oberstufe gingen und den Jahrgang 11 aufnahmen, stellte sich dieser Trend auch dort ein. Mehr als 100 Schülerinnen und Schüler von außerhalb bewarben sich jeweils für den Jahrgang 11. Wir sind die einzige weiterführende Schule im Stadtteil. Unsere Oberstufe hat das Gebäude der ehemaligen Hauptschule, einen Bau aus den 50er-Jahren, übernommen. Vor rund sechs Jahren war es ein Makel, in diesem Stadtteil zur Schule gehen zu müssen. Heute ist es für Familien aus ganz Gelsenkirchen ein Privileg, dort zur Schule gehen zu dürfen.

Noch ein paar visuelle Eindrücke zur Schulstraße. Das ist sozusagen das Zentrum. Darum herum gruppiert sich alles andere. Sie sehen, bei uns heißt alles auch ein bisschen anders: Wo sonst "Mensa" steht, heißt es bei uns "Wirtshaus". Die Arena übrigens hieß bei uns bereits Arena, bevor Schalke sein Stadion so benannte. Sie sehen den Eingangsbereich und die Bibliothek, auch unsere Kapelle, die natürlich zu einer kirchlichen Schule gehört. Es gibt eine Werkstatt mit Metall- und Holzverarbeitungsräumen. Um das Zentralgebäude herum gruppieren sich unsere Klassenhäuser, die unter Mithilfe der Schülerinnen und Schüler - das ist das Besondere an diesem Projekt - sukzessive entwickelt wurden. Unsere ersten sechs Jahrgänge waren an der Planung und an der Errichtung der Schule beteiligt. Das Ganze sieht nun so aus wie eine kleine Reihenhaussiedlung, fünf Klassen sind immer nebeneinander gebaut über anderthalb Etagen, jede Klasse mit ihrem eigenen kleinen Garten, jede mit ihrem eigenen Sanitärbereich für die Jungen und Mädchen. Obwohl die Klassenhäuser in Holzbauweise errichtet wurden, lagen die Kosten im Rahmen dessen, was Schulen auch sonst kosten. Die Bilder zeigen auch eine Klasse von innen. Der Ausbaustand beträgt mittlerweile - wir haben jetzt 1 080 Schülerinnen und Schüler - fünf Klassen pro Jahrgang mit je 30 Kindern. Die Jahrgänge 5 bis 10 bilden die Sekundärstufe 1. Die gymnasiale Oberstufe hat mit 90 Schülerinnen und Schülern begonnen - wir konnten natürlich nicht alle aufnehmen, die kommen wollten. Faktisch über 30 Prozent der Kinder weisen Migrationshintergrund auf.

Im Jahr 2000 verließen in Gelsenkirchen 35 Prozent der türkischstämmigen Kinder die Schulen ohne jeden Schulabschluss, das heißt auch ohne einen Hauptschulabschluss nach Klasse 9. Das ist eine ungeheuer hohe Zahl, auch weit über dem Bundesdurchschnitt, und ein großes Konfliktpotenzial. Und auch im diesjährigen Abschlussjahrgang der EGG haben weniger als zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Lehrstelle bekommen oder gesucht. Das heißt, wir nehmen ungefähr 45 in unsere Oberstufe auf, und es gehen über 70 in den berufsbildenden Bereich. Dieser boomt, aber im Grunde genommen "parken" die Schülerinnen und Schüler dort. Nur eine Minorität hat eine Lehrstelle gefunden oder aber - das ist das andere Problem - gesucht; denn auch in Gelsenkirchen- Bismarck gibt es Lehrstellen, die nicht zu besetzen sind. Wir haben uns deswegen sehr stark darauf verlagert, mit der örtlichen Handwerkerschaft zusammenzuarbeiten - der Bismarcker Handwerkermarkt ist ausgezeichnet und wurde preisgekrönt unter anderem auch von der Sozialen Stadt.

Die Schule öffnet sich zum Stadtteil, indem wir bei uns an der EGG berufskundlichen Unterricht durch Handwerker eingeführt haben, indem wir den Schülerinnen und Schülern Einblicke in Handwerksberufe geben. Sie sammeln dort Erfahrungen im Zuge von angeleitetem Arbeiten. Sie stellen berufsspezifische Produkte her und haben damit, so meinen wir, bessere Chancen beim Übergang in den Beruf. Ein Schüler bekommt, wenn er sich auf so etwas eingelassen hat, bei uns ein Zertifikat. Auf dem Foto sehen Sie einen Schüler, der in einem Gartenbaubetrieb seine Erfahrungen gesammelt hat.

Anderes Beispiel: Dieser Fleischer sucht seit Jahren Lehrlinge. Er kriegt keine. Auch jene, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt eher gering sind, haben mittlerweile ein Grundgefühl, das wir alle kennen: "Man soll nichts machen, mit dem man sich nicht identifizieren kann" oder "Man soll keine Arbeit annehmen, in der man sich nicht wohl fühlt". Diese Haltung ist so verbreitet, dass viele Jugendliche eher in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, als dass sie einen dieser Berufe ergreifen. Es hilft nicht, die Jugendlichen erst dann auf solche Lehrstellen hinzuweisen, wenn sie alles andere ausprobiert haben und dann direkt vor der Schulentlassung stehen. Wenn Sie wollen, dass die Toleranzschwelle der Schüler sinkt nach dem Motto "Na ja, eigentlich wollte ich Kraftfahrzeugmechaniker werden, aber das klappt ja nun alles nicht, also gucke ich mich mal um", dann müssen Sie zwei Jahre vorher anfangen. Dann müssen Sie den Jugendlichen langsam über Praktika, über Besuche in Betrieben usw. "ein paar Zähne ziehen" und ein verändertes Bewusstsein aufbauen. Ein solches bauen Sie nicht auf, indem Sie sechs Wochen vor dem Abgangszeugnis fragen: "Dennis, hast du denn eine Lehrstelle bekommen?" Und dann sagt der Dennis "nein", und Sie fangen mit ihm neu an zu suchen.

Wir arbeiten z.B. auch mit einer Tischlerei, einem Garten- und Landschaftsbaubetrieb und einer Dachdeckerei zusammen, die bei uns im Garten mit Schülern ein Gartenhaus errichtet hat. Wir haben überdies eine Computer-AG für die benachbarte Grundschule eingerichtet. Unser Förderverein veranstaltet jeden Samstag einen Brunch für die Nachbarschaft. Es gibt eine Reihe von Konzerten innerhalb und außerhalb der EGG. Wir haben mittlerweile Bläser-Klassen eingerichtet, in denen Schülerinnen und Schüler, 30 an der Zahl, lernen, Bigband-Musik zu machen. Wir haben die Kooperation mit dem benachbarten Konsoltheater, das auf dem Zechengelände entstanden ist. Wir arbeiten natürlich mit diversen Sportvereinen zusammen, von denen Schalke 04 nur einer ist. Wir haben als ein kirchlicher Träger eine ganze Reihe von Kontakten zu Kirchen- und Moschee- Vereinen.

Wenn jemand von der Schule noch mehr sehen möchte: Vor ein, zwei Monaten ist ein üppig bebilderter Band erschienen: "Kinder bauen ihre Schule". Er ist zweisprachig, in Englisch und Deutsch, und kostet im Buchhandel 49 Euro.

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