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Christian Ude,
Oberbürgermeister München
Ich denke, dass es zur differenzierenden Betrachtung, die Wolfgang Tiefensee eingefordert hat, gehört, nicht bei der Betrachtung einer Glitzerfassade stehen zu bleiben, sondern genauer hinzuschauen. Alle Fakten, die ich eben aufgeführt habe, stimmen zwar, sind aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere lautet, dass die Boomtown natürlich unter Wohnungsmangel, unter Mietenexplosion, unter erschreckend zunehmender Wohnungslosigkeit leidet, dass die Zahl der Obdachlosen wöchentlich um 40 bis 60 steigt, dass alle Bevölkerungsgruppen mit stagnierendem Einkommen unter dem Anstieg der Lebenshaltungskosten leiden, dass es eine zunehmende Armut vor allem kinderreicher Familien gibt. Boomtown ist als oberflächlicher Befund richtig, ändert aber nichts daran, dass es die Kehrseite, nämlich eine wachsende neue Armut und natürlich auch problembeladene Viertel gibt - wobei ich unmittelbar anschließen kann an meine Frankfurter Kollegin Petra Roth, dass nicht die Zuwanderung das Problem ist. Wir haben ein Viertel direkt hinter der weltberühmten Bavaria mit dem höchsten Ausländeranteil in München, in Grundschulklassen weit über zwei Drittel. Dort sind weder besondere Konflikte, noch besondere Problemlagen festzustellen, sondern im Gegenteil, hier besteht tatsächlich eine reizvolle multikulturelle Szene. Problemgebiete, die wir für das Projekt Soziale Städte vorgeschlagen haben, schauen ganz anders aus: Es sind Sozialbaureviere der 60er-Jahre, in denen im Wesentlichen heute noch die damals eingezogenen Parteien leben, also eine weit überalterte Bevölkerung. Es handelt sich um ein Viertel ohne lebendige Infrastruktur, weil es sich nicht rechnet, dort Filialen zu eröffnen; auch soziale Angebote sind spärlich, und Jugendliche, wenn es sie gibt, stehen ohne entsprechende Betreuungsangebote auf der Straße. Dort verstärkt jede frei werdende Wohnung das Problem des Minderwertigkeitskomplexes oder des schlechten Images des Viertels. Denn natürlich wird jede frei werdende Wohnung vom Wohnungsamt für die dringlichsten Fälle in Anspruch genommen. Und dies sind nun einmal Ausländerhaushalte mit vielen Kindern oder Personen mit mehreren Handikaps, die auch entsprechend sozial auffällig in Erscheinung treten. Als das größte Problem nennt die ortsansässige Bevölkerung die Wohnungsvergabe, eben weil diese an die dringlichsten Fälle erfolgt und nicht an aufstrebende Mittelschichten, die man lieber im eigenen Viertel hätte. So ist das Revier noch nicht gekippt, wie Stadtsoziologen sagen würden, aber man sieht eine Abwärtsbewegung, eine Verschlechterung des Ansehens, eine Weigerung von potenziellen Erwerbern, dort durchaus attraktive und preisgünstige Eigentumswohnungen zu kaufen. Diese müssen wie Sauerbier angeboten werden, während ansonsten in der gesamten Stadt eine wahnsinnige Nachfrage fast ohne rationale Preiskontrolle herrscht. Diese Reviere haben wir auch. Und deshalb hat sich die Stadt München schon 1999, als hier in Berlin das Programm vorgestellt wurde, um Projekte beworben, und davon will ich auch erzählen. Aber vorweg doch einige Klarstellungen, damit wir nicht den Blickwinkel verengen auf einige Nischen, wie Klaus Wiesehügel hier treffend gesagt hat. Diese Verengung darf nicht stattfinden. Deswegen möchte ich gerne vorweg sagen: Eine soziale Stadt - wenn damit die gesamte Stadt gemeint ist und nicht ein Projekt in einem Viertel - muss eine leistungsfähige Stadt sein. Nur die finanziell leistungsfähige Stadt, die auch in den kommenden Jahren alle vorhandenen Kultur- und Sozialeinrichtungen sowie Schulen finanzieren und neue Kinderbetreuungseinrichtungen dazu bauen und mit Personal ausstatten kann, ist eine soziale Stadt. Wenn uns die finanzielle Leistungsfähigkeit verloren geht, weil die Gewerbesteuer weg bricht, weil wir trotz sinkender Gewerbesteuereinnahmen auch noch eine erhöhte Umlage an Bund und Länder zahlen müssen, weil uns Aufgaben aufs Auge gedrückt werden, wie es jetzt mit der Grundsicherung geschieht und mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe geschehen soll, dann legt dies die Axt an die Leistungsfähigkeit der Kommunen. Dann werden die Kommunen insgesamt im gesamten Stadtgebiet den europäischen Standard an sozialer, kultureller und schulischer Infrastruktur, den wir gewohnt sind, nicht aufrechterhalten können - das muss in aller Dramatik hier gesagt werden, wenn wir uns unter dem Anspruch der sozialen Stadt treffen. Genauso wichtig ist es, die Proportionen zu sehen. Ich stimme Klaus Wiesehügel ausdrücklich zu, wenn er sagt, es sei zwar richtig, eine Handvoll, einige Dutzend arbeitslose Jugendliche oder Frauen in der Familienphase oder spät vermittelbare Arbeitskräfte mit längerer Arbeitslosigkeit in Beschäftigungsprogrammen, in Stadtteilläden oder sonst wo zu beschäftigen, aber es seien doch in der Relation nur Tropfen auf dem heißen Stein, wenn wir gleichzeitig miterleben müssen, dass ganze Gruppen von Erwerbstätigen einem Sozialdumping erliegen. Dies ist für die Bauwirtschaft sehr eindrucksvoll geschildert worden. Wir erleben es sogar als Arbeitgeber bei den eigenen Busfahrern, dass wir sie drücken sollen, damit sie im Preiswettbewerb mit privaten Anbietern konkurrenzfähig sind. Eine widersinnige Politik, denn wir treiben hier Familienväter auf dem sündteuren Pflaster München in ihren Einkommen herunter, bis sie irgendwann als Bedürftige beim Projekt Soziale Stadt wieder vor der Tür stehen. Soziale Stadt muss also auch eine weitsichtige Arbeits- und Sozialpolitik beinhalten. Das Problem der Relationen müssen wir auch auf dem Wohnungsmarkt im Auge behalten, wobei mir klar ist, dass ich hier über eine Sondersituation spreche, die es vielleicht in Frankfurt, Stuttgart und Hamburg gibt, aber die beispielsweise in den von Wolfgang Tiefensee dargestellten Städten so nicht vorhanden ist. Die Wohnungsnot - sie ist die Kehrseite der Arbeitsmarktsituation, das ist in mehreren Wachstumsregionen so. Wir müssen, hier in der Tat genau hinschauen und differenzieren. Aber ich habe es satt, mir erzählen zu lassen, dass der Wohnungsmarkt in Deutschland ausgeglichen ist, weil ich keinem einzigen Wohnungssuchenden in München eine leer stehende Wohnung in Halle anbieten kann. Die Bundespolitik ist demnach gehalten, genau hinzusehen und auf die vollkommen unterschiedlichen Problemlagen jeweils örtlich richtige Antworten zu geben. Das heißt aber, dass es in Wachstumsregionen mit Wohnungsbedarf Wohnungsbauprogramme geben muss. Wir als Kommune strengen uns mit 100 Mio. Euro jährlich an, wir wollen 1 800 Wohnungen jährlich öffentlich fördern, 150 davon direkt für Obdachlose und über 1000 für Durchschnittsverdiener mit Kindern. Trotz dieser großen Probleme, die nur mit großen Lösungen angegangen werden können, gibt es aber das Problem der Viertel mit besonderen Defiziten. Und hier halte ich das Programm Soziale Stadt für sehr wichtig. Diese Ergänzung zur traditionellen Wohnungsbaupolitik haben wir dringend gebraucht. Ich möchte jetzt die Stufen schildern, die ich nicht gleichermaßen ernst nehmen kann. Die erste Stufe ist die sprachliche Beschönigung der Probleme. Diese ist scheinbar unvermeidbar, wenn Sozialarbeiter, Sozialtherapeuten, Gemeinderäte, Architekten und Stadtplaner zusammenwirken. Aber die Sprachflut, die hier über einen herumpurzelt, kommt mir manchmal schon recht komisch vor. "Mama", heult der Bua, "warum müssen mir in einem Glasscherbenviertel leben, wo dauernd Zoff ist?" Nach einem Jahr Zukunftswerkstatt würde die Mutter dem Buben links und rechts eine runterhauen: "Das heißt nicht ‚Glasscherbenviertel', das heißt ‚infrastrukturell defizitäres Wohnquartier mit sozialräumlicher Polarisierung'." Etwas weniger Sprachgeklüngel und mehr Verständlichkeit im Hinblick auf die Bevölkerungsgruppen, um die es geht, täte auch Sozialplanern, Stadtplanern, Architektenteams gut. Zweite Feststellung: Ein grandioser Ansatz ist der ganzheitliche Ansatz, die ressortübergreifende Zusammenarbeit, die interdisziplinäre Kooperation. Aber auch hier sehe ich aus der etwas spöttischen Beobachtung durchaus markante Probleme. Die Vernetzung mehrerer Sozialarbeiter miteinander und deren Vernetzung mit Sozialtherapeuten und Pfarrgemeinderäten und Stadtplanungsbüros ist eine so umfassende Aufgabe, dass bei der Vernetzung Kommunikationsprobleme entstehen, deren Bewältigung viele Workshops erfordert. Und es soll Fälle gegeben haben - ich nenne keine Stadtnamen -, in denen die Vernetzungsarbeit ein so befriedigendes Betätigungsfeld ergeben hat, dass gar nicht mehr auffiel, dass die Wohnbevölkerung nicht mehr dabei war. Die Vernetzung ist aber unbestritten der richtige Ansatz, sie muss nur eng mit der Bürgerbeteiligung gekoppelt sein. Die Bürgerbeteiligung, die professionell angeregt, stimuliert, unterstützt und abgefragt wird, kann aber vollkommen unterschiedlich ausgehen. Um die Extreme zu nennen: im Glücksfall wird erreicht, dass erstmals die Sprachlosen Stimme erhalten, dass erstmals Berufsschüler und Lehrlinge sich so äußern wie sonst nur Gymnasiasten und Studentenvertreter, dass auch mal Rentnerehepaare sich äußern und nicht nur rechtsschutzversicherte Lehrerehepaare - das ist der Glücksfall, den Sprachlosen Stimme geben. Aber es gibt immer wieder auch den Unglücksfall der Professionalisierung bewährten Querulantentums - und dafür sollten wir nicht Steuergelder verpulvern, diese Aufgabe erfordert Sensibilität. Ich komme zur Bewertung:
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Quelle: Kongress Die Soziale Stadt - Zusammenhalt Sicherheit, Zukunft, Dokumentation der Veranstaltung am 7. und 8. Mai 2002 in Berlin, Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin, November 2002 |