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Norbert Kleine-Möllhoff, 1. Bürgermeister der Stadt Essen
Schon früh hat sich in Essen die Notwendigkeit gezeigt, neue Wege zu beschreiten, um soziale Segregation zu verhindern und Disparitäten auszugleichen. Der Strukturwandel, das Wegbrechen von Tausenden von Arbeitsplätzen im Bergbau und in der Stahlindustrie rissen riesige Löcher in das Gefüge unserer Stadt: sozial, baulich und in der Fläche. 1986 wurde die Schachtanlage 12, 1993 die Kokerei Zollverein mit jeweils über 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geschlossen. Das riesige Gelände von Zollverein wurde mit einem Mal zur nicht mehr genutzten industriellen Brachfläche, die eine Wunde in die weitere Entwicklung des Stadtteils Katernberg schlug. Insgesamt sind zwischen 1970 und 1987 im Stadtbezirk VI, zu dem Katernberg gehört, über 6 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Mit dieser strukturellen Krise wurde deutlich: Das Ungleichgewicht der sozialen Entwicklung schlägt sich räumlich nieder. Sehr früh hat die Stadt damit begonnen, regelmäßige Untersuchungen über die Sozialstruktur in den Stadtteilen und Quartieren durchzuführen, um verlässliche Informationen über die soziale Situation in der Stadt, in den Stadtteilen zu erhalten. In Essen, so ein Ergebnis dieser Studien, gibt es ein deutliches Nord-Süd-Gefälle, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Die Stadtteile mit kritischer Sozialstruktur befinden sich im ehemals stark industriell geprägten Norden der Stadt. Hohe Arbeitslosigkeit, ein hoher Anteil von Sozialhilfeempfängern, ein im Vergleich zum restlichen Stadtgebiet erhöhter Anteil an Einwohnern mit Migrationshintergrund waren nur drei auffällige Ergebnisse. Langsam gelangte die Verwaltung zur Einsicht, dass bestehende Probleme weitere Probleme nach sich zogen, dass sich also die Faktoren gegenseitig bedingten: Aus dem geringen zur Verfügung stehenden Einkommen ergaben sich zwangsläufig erhebliche Probleme für den örtlichen Einzelhandel. Ehemals prosperierende Mittelzentren wie das Gebiet um den Katernberger Markt verödeten, weil der Einzelhandel dicht machte. Die in einigen Quartieren schwierigen Wohnverhältnisse verschlechterten sich drastisch. Das Bildungsgefälle wurde signifikant. Schon früh erkannte die Stadt: Sollte die Verelendung oder gar Verslumung, wie wir sie aus US-amerikanischen Städten kannten, verhindert werden, mussten gezielte Projekte initiiert werden, um die Gleichheit der Lebensverhältnisse im Stadtgebiet wieder herzustellen, um das Abrutschen ganzer Stadtteile und damit großer Teile der Bevölkerung zu verhindern. Ein entscheidender Impuls zur Revitalisierung der Emscherregion und damit der nördlichen Stadtteile Essens war dabei sicherlich die Internationale Bauausstellung Emscherpark, die bedeutsame Einzelprojekte initiierte und durchführte. Vor allem die Besinnung auf das industriekulturelle Erbe der Region hat den Städten der Ruhrstadt neue Impulse, ein neues Selbstbewusstsein gegeben. Auch die Zeche Zollverein mit ihrer einmaligen Architektur hat als Projekt der IBA Emscherpark begonnen - heute steht sie als Anwärterin auf die Auszeichnung "Weltkulturerbe" ganz oben. Als zu Beginn der 90er-Jahre das Land Nordrhein-Westfalen das Programm "Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" startete, gehörte Essen-Katernberg zu den landesweit ersten Stadtteilen, für die Strategien und integrierte Handlungsprogramme erarbeitet wurden. Katernberg gehörte von Anfang an zu den Modellprojekten dieses Programms. Zwischenzeitlich kam auch ein weiterer traditioneller Arbeiterstadtteil hinzu: Seit Januar 1999 gibt es das Handlungskonzept für den Stadtteil Altendorf. Um integrierte Handlungskonzepte erfolgreich umzusetzen, müssen verbindliche Qualitätsstandards vereinbart und von allen Protagonisten eingehalten werden. Im Vordergrund steht dabei die Frage: Wer arbeitet wie mit wem woran? Schwierig war die Vereinbarung von Kriterien für die Zusammenarbeit: Offenheit und Transparenz sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit. Für die Verwaltung bestand wohl die größte Schwierigkeit darin, den Integrationsgedanken aufzugreifen - ein Gedanke, der der Verwaltung aufgrund ihrer Organisation fern war, denn die Struktur der Verwaltung mit ihrer fachlichen Orientierung stand der notwendigen räumlichen Orientierung im Weg. Die Verwaltung musste für ihr Handeln eine neue Perspektive, einen neuen Blickwinkel finden. Die alles entscheidende Frage lautete: "Was braucht der Stadtteil?" - und nicht: "Was kann die Stadt, was kann die Verwaltungseinheit X im Rahmen ihrer Zuständigkeit für den Stadtteil tun?" Was einfach und plausibel klingt, stellte für die Verwaltung einen Paradigmenwechsel dar - einen Paradigmenwechsel übrigens, der sich noch nicht überall durchgesetzt hat. So gibt es beim Bund zwar das Programm "Soziale Stadt" - eine ressortübergreifende Förderung integrativer Konzepte gibt es hingegen nicht. Hier ist der Bund in der Pflicht, nicht nur die Entwicklung integrativer Konzepte zu fordern, sondern sie auch integrativ, das heißt Ministeriums- und Fördermittel übergreifend zu finanzieren. In einigen Bereichen der Verwaltung ist dieser Paradigmenwechsel gelungen. Doch galt es auch, Widerstände in den Stadtteilen selbst zu überwinden. Das Konzept, alle relevanten Gruppen des Stadtteils an einen Tisch zu bringen, musste sich erst durchsetzen. Misstrauen und Vorbehalte gegen einzelne Beteiligte des Prozesses mussten behutsam abgebaut werden - dies bezieht sich nicht allein auf Vorbehalte gegen die Verwaltung, die oftmals nur als Ordnungsverwaltung wahrgenommen wurde; es bezieht sich auch auf einzelne Gruppen und Protagonisten in den Stadtteilen selbst. Von Anfang an setzte die Stadt Essen auf die Arbeit mit externen Moderatoren. Die Zusammenarbeit mit dem Institut für stadtteilbezogene Sozialarbeit ISSAB der Universität Essen erwies sich dabei als Glücksfall. Der mit dem ISSAB geschlossene Generalvertrag wird bei Bedarf um Einzelverträge für konkrete Projekte erweitert. Insgesamt beruht das Quartiermanagement nach dem Essener Modell auf drei Säulen: 1. Zunächst ist da die eigentliche Stadtteilarbeit, die in Stadtteilbüros koordiniert wird. Die Stadtteilbüros sind Anlaufstelle für alle Fragen, die den Stadtteil, das Quartier betreffen. Dieses Quartiermanagement ist langfristig angelegt, der integrative Ansatz soll sich verstetigen. Die Erfolge, die sich in Katernberg und auch in Altendorf zeigen, haben dazu geführt, dass auch andere Stadtteile die Vorzüge dieser integrativen Arbeitsweise entdecken. Ich bin zuversichtlich: In absehbarer Zeit wird sich diese Art des Quartiermanagements in Essen durchsetzen. Allein im Stadtteil Katernberg gibt es über 40 Projekte, die unter dem Motto "Essen-Katernberg: Ein Stadtteil macht sich auf den Weg" zusammengefasst wurden. Dazu gehören große Projekte wie die Zeche Zollverein - dazu gehören vor allem auch ganz kleine Projekte, deren Bedeutung für den Stadtteil jedoch nicht hoch genug angesetzt werden kann. Ich will das Kleine wie das Große an einigen Beispielen deutlich machen: Zollverein: So groß das Gelände ist, so vielfältig sind auch die Projekte, die hier verwirklicht werden: Das ZukunftsZentrumZollverein - kurz Triple Z - auf dem Gelände der früheren Schachtanlage 4/11 entwickelt sich zu einer guten Adresse für junge aufstrebende Unternehmen - bei Existenzgründern genießt es einen guten Ruf. 50 kleine und mittlere Unternehmen haben sich hier angesiedelt, die Auslastung liegt bei über 90 Prozent. Die Existenzgründer erhalten nicht nur Räume zu angemessenen Mieten. So genannte Coaches helfen ihnen von der Vorfeldberatung über den Gründungsprozess bis hin zur Begleitberatung, etwa in den ersten Jahren nach der Gründung. Der Bürger- und Handwerkerpark Katernberg Beisen auf dem Gelände des Schachtes 3/7/10 verbindet die Schaffung von Arbeitsplätzen im Handwerksbereich mit der Schaffung von für den Stadtteil dringend erforderlichen sozio-kulturellen Angeboten. So entstand im ehemaligen Schalthaus eine Kindertagesstätte. Kokerei Zollverein: Noch im Rahmen der IBA entstand die Ausstellung "Sonne Mond Sterne", die sich zum Publikumsmagneten entwickelte. In diesem Jahr gab es die Ausstellung "Arbeit Essen Angst". Im Salzlager hat sich der renommierte Künstler Ilya Kabakov mit dem "Palast der Träume" niedergelassen. Schacht 12 beherbergt neben dem Design Zentrum Nordrhein-Westfalen und dem Choreographischen Zentrum eine Zahl von Institutionen aus dem Bereich Kunst und Kultur. Design ist und bleibt ein Schwerpunkt dieses Geländes. Die Weltausstellung für Design Metaform nimmt ebenso wie der Plan, mit einem Ruhrmuseum das kulturelle Gedächtnis unserer Region zu gestalten, konkrete Formen an. Umgesetzt werden können diese Planungen allerdings erst, wenn die Finanzierung geklärt ist - hier ist noch viel zu tun. Ein Design-Gewerbepark ist in Planung. Vordringliches Ziel bei der Entwicklung von Schacht 12 wie des gesamten Areals ist die Schaffung von neuen zukunftsorientierten Arbeitsplätzen. Katernberg-Konferenz: Die Katernberg-Konferenz ist ein herausragendes Beispiel für die Herstellung einer lokalen Öffentlichkeit. Sie ist das Diskussionsforum für alle Angelegenheiten des Stadtteils. Eingerichtet von den Werbegemeinschaften der Stadtteile Schonnebeck, Stoppenberg und Katernberg ist sie fester Bestandteil der Stadtentwicklung geworden. Neben den bisherigen Themen der Stadtteilentwicklung, vom Sozialen bis zum Städtebau, hat das Thema Tourismus einen hohen Stellenwert erreicht. Die Katernberg-Konferenz ist ein gutes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement. Ethno art Ruhr ist ein Projekt, das Ausdruck der kulturellen Vielfalt unserer Stadt, unserer Region ist - diese kulturelle Vielfalt ist ein wichtiger Faktor für die Lebensqualität in unserer Region. Im ehemaligen Prüfstand auf Schacht 4/11 entstand ein Zentrum für junge ausländische Künstlerinnen und Künstler, Musikerinnen und Musiker. Sie finden hier nicht nur ein Umfeld, das ihnen ermöglicht, nach Ausdrucksmöglichkeiten ihrer spezifischen Kultur zu suchen. Unter einem Dach finden die Künstlerinnen und Künstler hier Übungs- und Probenräume, dazu Aufführungsbühnen und professionelle Video- und Tontechnik sowie professionelle Hilfe bei der Vermarktung. Ethno art Ruhr ist ein wichtiger Impulsgeber für interkulturellen Austausch vor Ort, aber auch in der gesamten Stadt, da sie auch wesentlich zum "Carnival der Culturen" beiträgt, den wir seit zwei Jahren im September begehen. Interkulturelle Konflikte lassen sich oft schon wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht oder nur unbefriedigend lösen. Auch kann es vorkommen, dass Migrantinnen und Migranten ihre berechtigten Interessen aufgrund mangelnder oder fehlender Sprachkenntnisse nicht durchsetzen können. Seit es im Stadtteil eine arabisch sprechende Kontaktperson gibt, hat sich die Situation erheblich verbessert. Deren Arbeit hat wesentlich dazu beigetragen, dass eine handlungsfähige Kooperationsstruktur entwickelt wurde, die der Erhaltung des sozialen Friedens im Stadtteil dient. Städte-Netzwerk für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf: Seit über zwei Jahren treffen sich regelmäßig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Städte, die am Landesprogramm für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf teilnehmen. Die Geschäftsstelle des Netzwerks ist bei der Stadt Essen angesiedelt. Ziele sind neben dem Informations- und Erfahrungsaustausch natürlich die gemeinsame Entwicklung von neuen Konzepten. Da auch Nachbarstädte Essens dazu gehören, bietet sich die interkommunale Zusammenarbeit hier wie selbstverständlich an. Gerade in dieser dicht besiedelten Region setzen wir in Essen verstärkt auf interkommunale Kooperation - auch dies gehört zur Erarbeitung integrierter Handlungsprogramme. So vielfältig die Probleme in unseren Stadtteilen, so vielfältig sind auch die Lösungsansätze - da ist für den Stadtteil die Einrichtung eines gemeinsamen Mittagstischs der Essener Tafel genauso wichtig wie die Entwicklung des Zollverein-Areals. Viele der Projekte, die in den Stadtteilen durchgeführt werden, sind ohne eine Essener Besonderheit undenkbar: Wenn es um Bauprojekte geht, ist meist der "Essener Konsens" beteiligt. Er ist keine Institution, er ist eine Grundüberzeugung, die von der Zusammenarbeit lebt. Alle Protagonisten treffen sich zu konkreten Projekten. Zumeist geht mit konkreten Bauprojekten die Qualifizierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen einher - oftmals sind es Maßnahmen im Rahmen von Arbeit statt Sozialhilfe. "Das Laster der Kleinstadt ist der Klatsch, das Laster der Großstadt ist die Gleichgültigkeit." Zumindest mit dem zweiten Teil seiner Aussage hat der amerikanische Schriftsteller Tom Wolfe zweifelsohne Recht. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern die Städte zurückgeben. Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligung und mehr Bürgerverantwortung. Viele Bürgerinnen und Bürger vermuten unredliche Einsparabsichten, wenn wir Politiker die Übernahme von mehr Verantwortung fordern. Hier muss noch viel Misstrauen abgebaut werden. Wir müssen deutlich machen, dass es dabei um mehr geht als um die Umsetzung von Einsparpotenzialen. Die Bürgerinnen und Bürger unserer Städte müssen sich mehr und mehr als Mitgestalter der Kommunen begreifen. Dies lässt sich am einfachsten im Stadtteil, im Quartier umsetzen. Oft fehlt es an der Motivation, an der Einsicht in die Notwendigkeit zur stärkeren Beteiligung an den Fragen der Entwicklung unserer Stadt. Hier muss in Zukunft noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Der amerikanische Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat einmal gesagt: "Wo soll ich beginnen? Die Welt ist so groß. Ich werde also mit dem Land beginnen, das ich am besten kenne, mit meinem eigenen. Aber mein Land ist so groß. Ich fange doch lieber mit meiner Stadt an. Aber meine Stadt ist so groß. Am besten beginne ich mit meiner Straße. Nein, mit meinem Haus. Nein, mit meiner Familie. Ach was, ich beginne bei mir." Was sich beim ersten Hinhören egozentrisch anhört, ist doch tatsächlich nichts anderes als eine Formulierung des Agenda-Gedankens "Think global, act local". Der Agenda-Gedanke entspricht der Idee des integrativen Handelns für die soziale Entwicklung unserer Stadtteile. Nur wenn es uns gelingt, soziale Segregation und Disparitäten innerhalb der Städte und Gemeinden zu beseitigen, nur dann werden wir auch an einer gerechteren, an einer besseren Welt arbeiten können. |