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soziale stadt - bundestransferstelle

Bund-Länder-Programm "Stadtteile mit
besonderem Entwicklungsbedarf - Soziale Stadt"
  

Teil II: Von der Sozialen Stadt zur umfassenden Nachbarschaftsentwicklung - Anregungen zur Veränderung der Programmkonzeption.

Soziale Stadt - Ein neues Programm

1. Neue Diskussion - Verschärfte Probleme, neues Verständnis
2. Neue Organisation, neue Maßnahmen
3. Nachhaltige Defizite in den Gebieten
4. Soziale Stadt - Ziele des Programms/Programmkonzeption
  4.1 Ziele als Ergebnis eines politischen Prozesses
  4.2 Zwei Kategorien - Lebensqualität und Lebenschancen
  4.3 Vielfalt der Ziele
  4.4 Diskrepanz zwischen Zielen und Instrumenten?
  4.5 Bündelung - ein Zwischenziel mit ambivalenter Bedeutung
  4.6 Empowerment oder Aktivierung - Sonderziel mit vielfältigen Dimensionen
  4.7 Mangel an Indikatoren

1. Neue Diskussion - Verschärfte Probleme, neues Verständnis

Vor etwa sechs bis sieben Jahren startete eine neue Welle der öffentlichen Diskussion über den Zustand von Nachbarschaften, in denen - meist als große Mehrheit - immobile Rentner, Arbeitslose, nicht integrierte Ausländer und Sozialhilfeempfänger - miteinander leben. Die Ministerkonferenz der ARGEBAU hat am 29.11.1996 die Gemeinschaftsinitiative "Soziale Stadt" für "Stadtteile und Ortsteile mit Entwicklungspriorität" als "nationales Aktionsprogramm" beschlossen. Die neuen sozialräumlichen Veränderungen waren vor allem Zeichen einer seit Ende der 70er-Jahre und wieder beschleunigt in den 90er-Jahren aus unterschiedlichen Gründen gewachsenen Ungleichheit. Am gravierendsten waren die Einflüsse der Arbeitslosigkeit und der Einwanderung. Die Bundesrepublik ist seit etwa 30 Jahren ein Einwanderungsland, 1973 wurde der Anwerbestopp für Gastarbeiter durchgesetzt. Seither kamen vermehrt Familienangehörige. Die Zahl der Ausländer erhöhte sich von rund 3,9 Mio. in 1973 auf heute rund 7,3 Mio., ohne dass die Zahl der Erwerbstätigen nennenswert über das Niveau des Jahres 1973 von gut zwei Mio. stieg. Heute leben in ethnisch geprägten oder dominierten Wohngebieten rund 15 bis 25 Prozent der Einwohner der Großstädte. In diesen Gebieten konzentrieren sich 20 bis 35 Prozent der Arbeitslosen, 25 bis 40 Prozent der Sozialhilfeempfänger, 25 bis 40 Prozent der schulpflichtigen Jugendlichen bei gleichzeitig extremer Unterinvestition in Humankapital, denn etwa 35 bis 50 Prozent der Unterausbildung (z.B. gemessen an der Zahl der Hauptschüler ohne Abschluss, der Übergangsquoten in die Gymnasien und der Quote der Sonderschüler) findet man in diesen Gebieten. Aus einer arbeitsmarktorientierten Zuwanderung in den 60er-Jahren entstanden im Laufe der 80er-Jahre immer stärker eine Einwanderung in die Arbeitslosigkeit und eine Sozialstaatseinwanderung.

Diese neuen räumlich konzentrierten Defizite werden sich nicht automatisch auflösen:

  • Auf "lockeren Märkten" kommt es zu eher noch ausgeprägterer Segregation. Örtliche Mängel in den Wohngebieten entscheiden über die Verortung, weniger über den Umfang der neuen Ungleichheit.
  • Die Einwanderung wird anhalten. Der ständige "Nachschub" an neu zugewanderten Ausländern wird dauerhafte Integrationsmaßnahmen erforderlich machen.
  • Die Arbeitslosigkeit hat sich bisher als extrem zählebig erwiesen. Selbst wirksamere Maßnahmen als bisher werden nur zu einem allmählichen Rückgang führen.

Für viele Bewohnerinnen und Bewohner der Minderheitengebiete entstehen allein aus der Heterogenität ihrer Herkunft und Lebensformen Überforderungen und Belastungen im Zusammenleben. Die einheimischen Bewohnerinnen und Bewohner fühlen sich vielfach als "Fremde im eigenen Land" und müssen besondere Integrationsleistungen erbringen, die in bürgerlichen Quartieren nicht erforderlich sind. Es häufen sich individuelle Probleme (Armut, Drogenkonsum, Alkoholismus), Defizite im Zusammenleben (Fehlen von Kommunikation, Streit und Konflikte), Fehlen von Identifikation und schwach ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein (Vernachlässigung der halbprivaten Bereiche in den Häusern, Eingangsbereichen oder Grünflächen sowie Verunreinigung und Vermüllung des öffentlichen Raums). Die Integration von Kindern und Jugendlichen wird unter solchen Bedingungen besonders schwer (Schulprobleme, Sprachbarrieren, Fehlen von Ausbildungsmöglichkeiten) (1). Die entstandene Situation erfordert neue politische Antworten. Die jetzt in Deutschland und aus anderen europäischen Ländern vorliegenden Erfahrungen erlauben eine grobe kritische Würdigung der Programmkonzeption und weiterführende Folgerungen.

In den belasteten Nachbarschaften der Gebiete der "sozialen Stadt" und ähnlichen Programmgebieten geht es inzwischen um mehr als eine Verbesserung der lokalen Lebensqualität für die Bewohnerschaft. Arbeitslosigkeit und Unterausbildung belasten angesichts der Größe der Gebiete die Städte und ihre Entwicklung insgesamt. Gelingt es nicht die Bildungsreserven in diesen Gebieten zu mobilisieren, wird es in der Phase des Jugendmangels, der nach 2010 beginnt, kaum möglich sein, die Engpässe bei qualifiziertem Nachwuchs zu überwinden. Gelingt es nicht, die Kontakte in den Arbeitsmarkt zu verbessern, dann verfestigen sich große Enklaven der Armut und der geringen Wertschöpfung. Belastete Nachbarschaften brauchen neben vielen anderen Verbesserungen vor allem einen neuen Typus Schule, eingebunden in eine Entwicklung, die unter intensiver Beteiligung der Bewohnerschaft zustande kommt und die Stärkung der lokalen Ökonomie genauso umfasst, wie Qualifizierungen für den städtischen Arbeitsmarkt außerhalb der Gebiete. Es wird nicht einfach sein, die neue Ungleichheit in den belasteten Nachbarschaften zu überwinden. Neben mehr Ressourcen werden wirksame, umsetzbare Konzepte benötigt. Das Programm "Soziale Stadt" ist ein Anfang, aber nicht das Ende einer Entwicklung.

2. Neue Organisation, neue Maßnahmen

Allen Beteiligten war von Anfang an klar, dass eine Nachbarschaftsentwicklung, in deren Zentrum eine Verbesserung der Lebensbedingungen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner stehen sollte, neue Instrumente und neue organisatorische Lösungen benötigte. Entsprechend der neuen Orientierung haben in den untersuchten Gebieten an Bedeutung gewonnen: die Verbesserungen sozialer Dienste und Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Vereinzelt werden systematischere Versuche unternommen, die schulischen Leistungen zu verbessern, die Sicherheit zu erhöhen und durch Wirtschaftsförderungsmaßnahmen die Wertschöpfung im Gebiet zu steigern (lokale Ökonomie). Die Sondermaßnahmen und noch mehr die Verträge der Quartiersmanagerinnen und -manager sind in der Regel weiterhin zeitlich befristet (Laufzeiten zwischen drei und fünf Jahren). Innerhalb der Verwaltung erhält meist das Stadtplanungsamt, häufig auch das Sozialamt (Hessen), eine koordinierende Rolle gegenüber den sonstigen beteiligten Ämtern. Vor Ort werden Quartiersmanager oder Nachbarschaftsagenturen installiert. Sie behalten eine Sonderstellung. Die realisierten Maßnahmen in den jeweiligen Gebieten werden flexibel an die örtlich artikulierten Wünsche angepasst. Verglichen mit den Normalmaßnahmen der Kommunen kommt es in der Regel zu einer intensiveren Beteiligung von Bewohnerinnen und Bewohnern.

3. Nachhaltige Defizite in den Gebieten

Die Defizite in den Gebieten der Sozialen Stadt wurden bereits vielfach dargestellt. Wichtig ist jetzt eine Antwort auf die Fragen, welche Chancen nach den bisherigen Erfahrungen bestehen, die Defizite zu überwinden, und inwieweit die Organisationen und Maßnahmen den Dimensionen und der Art der Belastungen gerecht werden können.

Arbeitslosigkeit
Trotz zwanzigjähriger Versuche, Arbeitslosigkeit abzubauen, stieg die Arbeitslosigkeit ständig an und konzentrierte sich auch räumlich immer mehr. Die Arbeitslosenquoten in belasteten Nachbarschaften liegen meist um etwa hundert Prozent über dem Durchschnitt der Stadt. Da es an Arbeitsplätzen fehlt und die Kommunen durch Arbeitsbeschaffung i.d.R. keine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen schaffen können, stehen die örtlichen Bemühungen meist vor kurzfristig und auch mittelfristig kaum überwindbaren Hindernissen. Ein besonders Dilemma ergibt sich aus der Armutsfalle. Arbeitslose, die geringe Beträge verdienen, müssen mit einer Reduktion ihrer Sozialleistungen rechnen. Ihr Anreiz zu arbeiten bleibt gering. Dies gilt besonders für Alleinerziehende, die in der Regel nur eine Halbtagsarbeit annehmen können. Die Armutsfalle erweist sich de facto als eine Aufforderung zur Schwarzarbeit. Schwarzarbeit wird von den wenigen Erwerbstätigen in den Gebieten wiederum als Affront erlebt und vergiftet die Atmosphäre des Zusammenlebens, weil Sozialhilfeempfänger mit Schwarzarbeit besser leben, als die Erwerbstätigen mit niedrigen Löhnen. Arbeitslosigkeit erweist sich als ansteckend. Hohe örtliche Arbeitslosigkeit tendiert dazu, Arbeitslosigkeit zu perpetuieren. Ihre hohe Konzentration macht es für den Einzelnen durch Stigmatisierung und Netzwerkarmut schwerer als in anderen Gebieten, am Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein.

Dennoch werden Erfolge bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit erwartet. Dort, wo solche Erfolge beobachtet werden können, gehen sie auf schon bestehende wirksame Programme des zweiten Arbeitsmarktes oder auch der Umschulung und Trainingsmaßnahmen zurück. Im Ergebnis gibt es kaum besondere Programme oder besondere Verhaltensweisen der Arbeitsämter gegenüber den Gebieten. Künftig werden sich neue Wirkungsmöglichkeiten aus der Integration von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ergeben, ebenso aus der Kooperation in den Personalserviceagenturen. Allerdings ist nicht automatisch zu erwarten, dass die Gebiete der Sozialen Stadt hier eine besondere Präferenz erhalten.

Überforderte Schulen in schwieriger Lernumwelt
Die Unterausbildung ruft neben der Arbeitslosigkeit die größten Schäden und Belastungen hervor. Angesichts der Größe der Gebiete strahlen die negativen Folgen auf die ganze Gesellschaft aus und reduzieren die Chancen für eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung und einen Rückweg zur Vollbeschäftigung. Allerdings sind lokale Daten nur schwer zu beschaffen, weil es immer noch unüblich ist, Übergangsquoten auf die Gymnasien oder die Quote der Hauptschulabgänger ohne Abschluss für die Gebiete zu veröffentlichen. In fast keinem der geförderten Gebiete haben die Verantwortlichen ausreichende Daten zusammengestellt, um die Unterausbildung zu messen. Praktisch nirgendwo zählen messbare Fortschritte in der Schulausbildung zu den zentralen Zielen der Gebietsentwicklung. Noch immer ziert sich das Bildungssystem, Transparenz über alle Aspekte des Erfolges oder Misserfolges kleinräumig herzustellen. Im Programm Soziale Stadt wurde diese Lücke bisher kaum befriedigend geschlossen.

Die Bewohnerschaft und ihre Probleme im Zusammenleben
In den verfestigten belasteten Gebieten, insbesondere in den Großsiedlungen, sind Konflikte im Zusammenleben an der Tagesordnung. Solidarität und Verpflichtungsgefühle über ethnische oder familiäre Grenzen hinweg sind schwach entwickelt. Die Bewohner werden auf immer vielfältigere Weise zum Problem für die Bewohner. Es gibt viele Verhaltensweisen, die Mitbewohner stören, belästigen, reizen, zur Weißglut treiben oder rabiat werden lassen (unterschiedliche Lebensrhythmen von Erwerbstätigen und anderen, unterschiedliche Lebensgewohnheiten oder Erziehungsformen der Kinder, unterschiedliche Vorstellungen über Sauberkeit im öffentlichen Raum oder unterschiedliches Verantwortungsgefühl). Die Fähigkeiten, Konflikte zu vermeiden oder zu bewältigen sind demgegenüber knapp bemessen. Anders als bei der Arbeitslosigkeit verfügen die Kommunen zusammen mit den Wohnungsgesellschaften über mehr Möglichkeiten dagegen anzugehen. Die Bewohnerinnen und Bewohner selbst können durch ihr Verhalten Veränderungen erzeugen.

Dichte ethnische Netzwerke und gleichzeitige Netzwerkarmut
Aus der Arbeitslosigkeit und Isolierung entstehen im beruflichen und im sozialen Leben eine neue Netzwerkarmut und ein ansteckendes Milieu der Lähmung. Für die Bewohner wird es besonders schwer, sich daraus durch eigene Aktivitäten zu befreien. Hier liegt für alle Unterstützungsmaßnahmen eine besondere Schwierigkeit. Während die Einkommensarmut durch bloße Transferzahlungen in Grenzen gehalten werden kann, sind Maßnahmen gegen die Netzwerkarmut sehr viel schwieriger zu starten und erfolgreich abzuschließen.

Es gibt große ethnische Gruppen, die "zusammenhalten wie Pech und Schwefel". Vielfach schwingt Neid mit, wenn Deutsche darüber klagen, dass sie als isolierte Kleinfamilien nicht über die Netzwerke der "Sippen" von Ausländern oder Aussiedlern verfügen. Ähnlich gelagert sind die Klagen deutscher Jugendlicher darüber, dass Ausländergruppen die Jugendclubs monopolisieren. Die inneren Netzwerke können die Netzwerkarmut nach außen nicht kompensieren. Dabei wissen wir, welche Bedeutung informelle Empfehlungen und Kontakte gerade am Arbeitsmarkt haben. Die starke Binnenorientierung von ethnischen Minderheiten wird zu einem besonderen Hindernis bei der wirtschaftlichen Entwicklung der Gebiete. Die klassischen kommunalen Instrumente greifen hier nur schwach. Es gibt allerdings in großen ethnisch geprägten Nachbarschaften immer häufiger auch ethnische Unternehmer, die spezielle Produkte für regionale oder sogar überregionale Märkte produzieren. Sie beschäftigen natürlich mit Vorrang ihre Landsleute und können lokal zu einem Wirtschaftsfaktor von Gewicht werden.

Nebeneinander von Mobilen und Immobilen
In der Regel leben in den Gebieten der "Sozialen Stadt" rund 50 Prozent der Bewohnerschaft hier erst seit kurzem (Rückkehr von Ausländern in die Heimat, hochmobile Durchgangsbevölkerung, Abwanderung von Aufsteigern). Mindestens die Hälfte der Bewohnerschaft dürfte kaum Bindungen an das Wohngebiet und damit kein nachhaltiges Interesse an einer Aufwertung und nur geringe Bereitschaft zur Partizipation entwickeln (2).

Zu wenig Wertschöpfung oder schwache lokale Ökonomie
Vor allem in den Großsiedlungen gibt es nur wenige leistungsstarke lokale Unternehmen oder Unternehmer. Die Neubaugebiete im Programm Soziale Stadt sind besonders wertschöpfungsarm. In den homogenen Siedlungen fehlen kleine Werkstätten, kleine Läden, kleine Kneipen. Es fehlen abgeschriebene Gebäude mit Billigmieten, die potenziellen Existenzgründern über die lokale Wirtschaftsförderung angeboten werden können. Die Gebiete erzwingen eine hohe Produktivität, wenn man sich selbständig machen will. Sie bleiben damit in einem doppelten Sinn ereignisarm. Es fehlen unmittelbare Vor-Ort-Erlebnisse über wirtschaftliche Tätigkeiten. Die Kontakte und die Erfahrungen mit Menschen, die engagiert ihrer Arbeit nachgehen, sind ausgedünnt. Es dominiert ein reines Konsumleben mit meist geringen finanziellen Möglichkeiten.

Defizite in den öffentlichen Leistungen
Allein der hohe Ausländeranteil führt dazu, dass der demokratische Einfluss der belasteten Nachbarschaften geringer ist, als es ihrem statistischen Gewicht entspräche. Allerdings ist auch die übliche Infrastruktur der Zivilgesellschaft schwach entwickelt. Allein die Tatsache, dass es weniger Vereine - insbesondere Sportvereine - gibt, führt dazu, dass die Gebiete in der Verteilung von Mitteln aus der Sport- oder Jugendförderung schlechter wegkommen. Hinzu kommen geringe wirtschaftliche und politische Durchsetzungskraft, schwache politische Beziehungsnetze, unzureichende Interessenvertretungen und auch die geringe wirtschaftliche Bedeutung/Produktivität/Kaufkraft sowie der Mangel an Personen mit hoher Bekanntheit. Es fehlen innere Hierarchien und oft weithin bekannte Sprecher der Bewohnerschaft. Es fehlen genügend Honoratioren und anerkannte lokale Führungspersönlichkeiten. Das gilt natürlich nicht flächendeckend. Es gibt Bürgerinitiativen mit ausgesprochen artikulationsfähigen Sprechern. Es gibt geschickt agierende Mieterbeiräte oder auch Elternvertreter. Dennoch dominieren die Siedlungen mit schwacher politischer und wirtschaftlicher Macht. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die lokalen "Manager" des öffentlichen Sektors als Lobbyisten für "ihr Gebiet" wirksamer werden können. Die Organisationslösungen müssen auch unter diesem Gesichtspunkt bewertet werden. Der Aufmerksamkeitseffekt des Programms sollte auch die "Machtposition" der Gebiete verbessern.

Mängel im baulichen Umfeld
Defizite in der gebauten Umwelt bewirken neben den unmittelbaren Beeinträchtigungen der Lebensqualität eine problematische Selbstselektion, die sie bei Umzügen in Gang setzen. Mängel ergeben sich in Neubaugebieten vor allem durch deplatzierte Hochhäuser (am Rande von Marzahn genauso wie für die "Nato-Zähne" in Siegen oder die "Glaspaläste" in Emden). Abriss von Hochhäusern ist inzwischen dementsprechend kein Tabu mehr.

Noch immer befinden sich die Außenanlagen und die Eingangsbereiche der Gebäude oft in einem abschreckenden Zustand (langweiliges Abstandsgrün im unwirtlichen Urzustand, kümmerliche Eingänge - zu niedrig, zu schmal, zu unansehnlich, zu eng, unklar installiert, zu niederdrückend, zu dunkel, allzu weit nach innen verlagert, zu abstoßend - weil abgewohnt und verkommen). Es gibt aber auch schon Siedlungen, in denen aus Vorgängerprogrammen Conciergelösungen für die Eingänge etabliert wurden. Das wird vor allem Bedeutung für die einzelnen Gebäude und auf Dauer für die Zusammensetzung der Bewohner in diesen Gebäuden haben. Die Fluktuation kann reduziert werden, wenn etwa durch Conciergelösungen die soziale Kontrolle und das Sicherheitsgefühl steigen. Die Summe solcher baulichen Maßnahmen, insbesondere auch die bessere Zuordnung von Außenbereichen - kann die Lebensqualität erheblich steigern und Stigmatisierungen verringern. Sie bietet dennoch keinen Ersatz für eine bessere wirtschaftliche und soziale Entwicklung.

4. Soziale Stadt - Ziele des Programms/Programmkonzeption

4.1 Ziele als Ergebnis eines politischen Prozesses

Politische Ziele oder die Ziele von Programmen sind nicht das Ergebnis autonomer oder freier Wertungen. Sie entstehen in einem politischen Prozess, der im Fall der Sozialen Stadt durch folgende unterschiedliche Faktoren beeinflusst wird:

  • Die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner, auch dort, wo sie als Ausländer über keine politischen Stimmrechte verfügen, spielen immer eine zentrale Rolle. Die Gebietsmanager sehen in der Regel ihre Aufgabe vor allem darin, diese Wünsche zu erfassen und entsprechende Maßnahmen zu starten.
  • Ziele sind in weiten Bereichen das Spiegelbild von Defiziten. Die Bewertung und Gewichtung von Defiziten führt fast automatisch zu ähnlich bewerteten und gewichteten Zielen.
  • Neben den lokalen Präferenzen der Bewohnerschaft kommen immer allgemeine gesellschaftspolitische und wirtschaftspolitische Zielsetzungen hinzu, die als generelle Orientierung dienen. Überwindung der Arbeitslosigkeit und höhere Investitionen in Humankapital sollten aus allgemeinen politischen Erwägungen eine überragende Bedeutung erhalten.
  • Nicht unwichtig bei der Festsetzung der Ziele sind die beteiligten Ämter, die in den Gebieten engagiert sind und aus ihrer Sicht seit langem überfällige Maßnahmen realisieren wollen.

4.2 Zwei Kategorien - Lebensqualität und Lebenschancen

Programme vom Typus "Soziale Stadt" sollen die Lebensqualität und Lebenschancen für die Bewohnerschaft verbessern. An einer Verbesserung der Lebensqualität sind praktisch alle Bewohnerinnen und Bewohner interessiert. Maßnahmen zur Steigerung der Lebenschancen richten sich vor allem auf die Arbeitslosen und andere Gruppen mit bisher geringen Erfolgen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben. Lebensqualitätsziele dürften in der Regel in enger Kooperation mit den Bewohnern - gestützt auf deren Wünsche - formuliert werden. Demgegenüber spielen bei den Lebenschancen allgemeine gesellschaftspolitische oder auch wirtschaftspolitische Ziele eine bedeutende Rolle. Maßnahmen zugunsten der Lebenschancen, das heißt insbesondere zum Abbau von Arbeitslosigkeit und zur Steigerung des Bildungsniveaus, sollten auch dann ergriffen werden, wenn die Bewohner selbst diese Ziele und Wünsche nicht oder nur schwach artikulieren. Gemessen an der Häufigkeit und der Gewichtung der Maßnahmen überwiegen in den Gebieten de facto die Lebensqualitätsziele (3).

4.3 Vielfalt der Ziele

Die Oberziele müssen ausdifferenziert und operationalisierbar gemacht werden. Dazu sind die relevanten Wirkungsverflechtungen stärker zu berücksichtigen. Da z.B. eine erfolgreiche Teilnahme am Arbeitsmarkt in der Regel eine gute Ausbildung voraussetzt, haben Verbesserungen der Bildungsleistungen wie der Schulergebnisse eine besondere Bedeutung - auch wenn sie nur längerfristiger wirken. Ihre Gewichtung ist unabhängig von konkreten Wunschäußerungen der Bewohnerinnen und Bewohner. Ähnliche Bedeutung haben eine allgemeine Erhöhung der Wertschöpfung im Gebiet und natürlich der Abbau von Arbeitslosigkeit. Die Ziele der Lebenschancen stehen für ein Quartiersmanagement und auch für Bewohnervertreter nicht zur Diskussion. Sie sind vorgegeben.

Die beiden Zielbereiche lassen sich jeweils nahezu beliebig weiter auffächern:

Verbesserung der Lebensqualität - typische Einzelziele, wichtige Bereiche:

  • bauliche Maßnahmen (Außenanlagen, Eingangsbereiche, Abriss, Neubau bzw. andere Nutzung, Wohnungsmodernisierung),
  • soziale Dienste,
  • private Dienste,
  • Beziehungen zwischen Nachbarn,
  • aktive Unterstützung im Alltagsleben (von Baby-Sitting bis Einkaufen, Wohnungsrenovierung und Hilfen gegenüber Ämtern),
  • Freizeitaktivitäten.

Verbesserung der Lebenschancen, wichtige Bereiche:

  • bessere Ausbildung von Kindern und Jugendlichen,
  • Steigerung des Bildungsniveaus und der zivilisatorischen Kompetenz von Erwachsenen,
  • Steigerung der beruflichen Fähigkeiten,
  • Verbesserung der Beziehungen nach außen/Überwindung der Netzwerkarmut,
  • Stärkung der Durchsetzungs- und Gestaltungskompetenz in der Nachbarschaft und in der lokalen Politik,
  • Befähigung zur Selbständigkeit,
  • Steigerung der Wertschöpfung im Gebiet.

Die gewisse Einseitigkeit der Maßnahmen durch eine Schwäche bei der Verbesserung der Lebenschancen wird auch daran sichtbar, dass Schulergebnisse und Arbeitslosigkeit weit hinter dem angestrebten Niveau zurückbleiben. Allerdings dürfte auch eine gewisse Ohnmacht insbesondere in den Kommunen gegenüber diesen Zielen eine Rolle spielen. Trotz ganzer Serien von Schulreformen blieben die Schulergebnisse unzureichend. Aus dem niedrigen Bildungsniveau (das allerdings selten systematisch dokumentiert wird) folgt, dass die Bildungs- und Qualifizierungsaufgaben in den Gebieten stärker gewichtet werden sollten. Tatsächlich kuriert die Politik seit 20 Jahren ohne Erfolg an der Arbeitslosigkeit herum. Auch die begrenzte Wirkung der lokalen Maßnahmen dürfte dazu beitragen, dass der Abbau der Arbeitslosigkeit in der Umsetzung der Programme selten oberste Priorität erhält. Arbeitslose in den Gebieten der "Sozialen Stadt" werden von den Arbeitsämtern in der Regel kaum mehr gefördert als solche in bürgerlichen Quartieren. Dabei dürfte der Abbau der Arbeitslosigkeit in überforderten Nachbarschaften einen weit größeren gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Nutzen stiften als der Abbau von Arbeitslosigkeit in stabilen Nachbarschaften.

4.4 Diskrepanz zwischen Zielen und Instrumenten?

Zwischen Zielen und Maßnahmen bestehen oft erhebliche Diskrepanzen. Quantifizierungen von Zielen und eine genaue Beschreibung der Maßnahmen und ihrer Wirkungen bezogen auf bestimmte Ziele könnten dazu beitragen, realistischere lokale Programme zu entwickeln. Auch - meist fehlende - systematische interne Evaluationen, die festhalten, inwieweit Ziele erreicht wurden oder inwieweit die Wirksamkeit der Maßnahmen den Erwartungen entspricht, können einen größeren Realismus bei der Formulierung von Zielen begünstigen. Auf solche Lückenanalysen sollte ein besonderes Augenmerk gerichtet werden. Es wäre herauszuarbeiten, welchen Zielen oder Defiziten keine entsprechenden Instrumente und Maßnahmen gegenüberstehen.

4.5 Bündelung - ein Zwischenziel mit ambivalenter Bedeutung

Bündelung wurde schon bei der Konzeptentwicklung zu einem wichtigen Schlüsselbegriff. Es soll versucht werden, in den ausgewiesenen Gebieten einen möglichst hohen Aufwand zu ermöglichen, um die Gebiete zu verändern. Allerdings verbirgt sich hinter dem Vorschlag Bündelung auch die Einsicht, dass andere Ressorts ihre eigenen Zielgruppen in den Gebieten unbedingt in ihrer eigenen Zuständigkeit im Rahmen ihrer Programme erreichen wollen. Die spezialisierten Ressortzuständigkeiten erschweren es, Gebietsprogramme ausreichend zu dotieren. Räumliche Bündelung von Mitteln aus verschiedenen Programmen soll der Dringlichkeit der Maßnahmen in den belasteten Gebieten gerecht werden. Hinter der Forderung nach Bündelung steht die Befürchtung, dass Mittel, die für bestimmte Zielgruppen gedacht sind, die in den Programmgebieten besonders stark vertreten sind, dennoch in den fachlichen Spezialprogrammen nicht ausreichend in den Gebieten ankommen. Da fast alle Mängelindikatoren hoch korreliert sind, müssten fachliche Programme jedoch automatisch zu einer räumlichen Bündelung führen. Da dies offensichtlich nicht ausreichend der Fall ist, bestehen zwei mögliche Mängel:

1.

Die Programme sind so klein, dass sie nur zu einer Förderlotterie führen und vielfach verpuffen. Die Bündelung zugunsten der Programmgebiete könnte eine solche Lotterie korrigieren.

2.

Die Fachprogramme werden normalerweise an den Programmgebieten der sozialen Stadt eher vorbeigelenkt, weil diese Gebiete ein schwaches Akquisitionspotenzial haben. Diese einseitige räumliche Verwendung würde durch Bündelung reduziert.

So verständlich die Forderung nach Bündelung ist, so problematisch sind verschiedene Nebenwirkungen. Die Gebietsverantwortlichen, die versuchen, durch parallele Anträge in verschiedenen Programmen den lokalen Mitteleinsatz zu steigern, werden in der Praxis zu Programmjongleuren, die unterschiedliche Programmzwecke und die Einsatzbedingungen von Mitteln eruieren müssen, um dann einen geeigneten Antragsteller zu finden, der die Mittel in das Programmgebiet lenkt. Bündelung erzeugt hohen Administrationsaufwand, weil jeweils nicht "zusammenpassende" Maßnahmen miteinander verkoppelt werden müssen.

4.6 Empowerment oder Aktivierung - Sonderziel mit vielfältigen Dimensionen

Auch Empowerment ist ein Instrument und wichtiges Ziel zugleich. Es geht darum, den politischen Einfluss der Nachbarschaft, der allein schon wegen des Fehlens der Stimmenmacht der Ausländer gering ist, in der kommunalen Politik zu stärken. Es geht auch darum, dass die Bewohner bei der Gestaltung der Programme Einfluss nehmen und durch die Einflussnahme und Mitarbeit Kompetenzen gewinnen und ihre Durchsetzungsfähigkeiten verbessern. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen stärker als bisher ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln und bestimmen können. Empowerment hängt auch davon ab, ob die Verwaltungen und insbesondere die Parlamente Entscheidungskompetenzen an die lokalen Gremien abtreten - hier insbesondere Kompetenzen zur Entscheidung über die Mittelverwendung. Würde ernsthaft versucht, den Nachbarschaften Mittel für längerfristige Entwicklungskonzepte zur Verfügung zu stellen und ihnen mehr Gestaltungskompetenz zu übertragen, um über die Details der Programmstruktur selbst zu entscheiden, dann würde dies bei den Bürgern ohne Zweifel das Interesse an der Mitarbeit stärken. Eine solche Dezentralisierung ist bisher jedoch nirgends vorgesehen.

4.7 Mangel an Indikatoren

Die Gebiete werden meist durch einen lückenhaften Satz sozioökonomischer Indikatoren charakterisiert (Sozialstruktur, Arbeitslosigkeit, qualitative Beschreibung der baulichen und sonstigen Mängel und der politisch virulent gewordenen Konflikte). Fast immer fehlen die wichtigen Indikatoren zu den Schulergebnissen oder allgemein zur Bildung von Humankapital. Die Indikatoren erlauben in der Regel keine quantifizierende Analyse der Programme und ihrer Ergebnisse. Allein die geringe Transparenz über die Geld- und Leistungsströme, die aus unterschiedlichen Quellen im Rahmen der "normalen" staatlichen Aufgaben in die Gebiete fließen, machen eine Erfassung des öffentlichen Aufwands schwer. Allerdings besteht meist kein Ehrgeiz, die Projekt- und Programmkosten genau zu erfassen und sie den erzeugten Produkten gegenüberzustellen. Es wäre dringlich, einen Kostenrahmen und eine Produktpalette für die Gebiete zu entwickeln, um vergleichbare Informationen als Voraussetzung für eine Steuerung des Mitteleinsatzes nach Effizienz- und Effektivitätskriterien zu ermöglichen.

 

(1) Die Stadt Köln kommt zu dem - auch in anderen Städten zu beobachtenden - Ergebnis, dass weit mehr als ein Drittel der unter 18-Jährigen in Köln in diesen Gebieten aufwächst.

(2) So stellen Kommunen z.B. den Sportvereinen Turnhallen oder andere Sporteinrichtungen zur Verfügung. Damit bestimmt die Struktur der Mitglieder automatisch darüber, welche Bewohner diese kommunalen Leistungen erreichen.

(3) Zum Vergleich: die Auszählung der Ziele in 15 Gebieten des Berliner Quartiersmanagements.

  

Quelle: Good Practice in Neubauquartieren. Eine Analyse im Rahmen des Bund-Länder-Programms "Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt", von empirica - Qualitative Marktforschung, Stadt- und Strukturforschung GmbH, Arbeitspapiere zum Programm Soziale Stadt Bd. 9, Berlin, 2003

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