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Wolfgang Tiefensee,
Oberbürgermeister der Stadt Leipzig
Der bereits angesprochene Professor Häußermann hat in den 80er-Jahren von einer doppelten Spaltung gesprochen, zunächst einer Spaltung in Städte, die sich aufwärts entwickeln, und von solchen, die abgehängt werden, sodann einer Spaltung, die innerhalb der Stadtgesellschaft stattfindet. Wir umschreiben dies mit dem eigentlich etwas Falsches suggerierenden Begriff der "Entmischung". Vielleicht sollte man angesichts der Entwicklung nach 1989 von einer dritten Spaltung sprechen, der Entwicklung in Ostdeutschland und jener in Westdeutschland. Lassen Sie mich zunächst ganz kurz die Situation charakterisieren, dann möchte ich einige wenige Gedanken zu der Frage äußern, wie wir mit dieser Situation umgehen können. Ich brauche die Disparitäten zwischen Ost- und Westdeutschland nicht weiter zu thematisieren. Städte, die wie Leuchttürme herausragen - ich rechne die Stadt Leipzig hierzu -, zählen allenfalls zur Ausnahme. Sie liegen in einem Umfeld, das nicht prosperiert, während die Städte, denen es in Westdeutschland schlecht geht - und derer gibt es einige, Stichwort schwierige Haushaltssituation usw. -, eher in einem prosperierenden Umfeld liegen. Ich lade Sie ein zu einem Spaziergang durch die Innenstadt Leipzigs, wo man besichtigen kann, wie Aufschwung funktioniert. Und ich führe Sie in eine Kleinstadt mit blinden Fenstern, wo man flaniert und allsonntäglich feststellt, dass wieder ein Laden dicht gemacht hat, ein Haus mehr verfallen ist. Aber auch die Spaltung innerhalb der Städte hat zugenommen. Dies kann man an Leipzig deutlich machen. Da gibt es eben neben dem Waldstraßenviertel mit seinen stolzen Bürgerhäusern, neben der Innenstadt, die Ihresgleichen sucht, drei besondere Problemzonen: erstens die Plattenbausiedlung, und hier der Wohnkomplex 7 und 8, zweitens Plagwitz und Leutzsch im Westen, ein altes Industriegebiet, und drittens den Leipziger Osten, charakterisiert durch einen extrem hohen Leerstand. Leipzig besitzt ungefähr 300 000 Wohnungen, davon stehen 60 000 leer, 300 000 zu 60 000. Der Leipziger Osten beispielsweise beklagt einen Leerstand von 40 bis 50 Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Anzahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger explodiert, die Fragen der Sicherheit spielen eine Rolle, und das Image dieser Stadtteile entwickelt sich wie in einer Spiralbewegung nach unten. Es beginnt ein Prozess der Segregation, der schon oft beschrieben worden ist. Wie kann man auf diese schwierigen Prozesse reagieren? Albert Einstein, ein Intellektueller, war auch ein sehr verstreuter Professor. Jeden Montag gab er seinen Studenten ein Blatt Papier mit Fragen, die zu beantworten waren. Eines Morgens kam eine Studentin zu Einstein und sagte: "Herr Professor, Sie haben uns den gleichen Zettel wie vor einer Woche gegeben, Sie haben sich geirrt." "Nein", sagte Einstein nach kurzem Überlegen, "ich habe Ihnen zwar die gleichen Fragen gegeben, aber ich verlange andere Antworten." Dies ist der Punkt, um den es jetzt geht. Die Probleme ziehen sich über Jahrhunderte hin, wir müssen andere Antworten finden. Wir brauchen eine solide Analyse. Trauen sie niemandem, der von einem homogenen Deutschland, von einer homogenen Situation in den Städten spricht. Man muss sich schon die Mühe machen, mit der Lupe hinzuschauen. Man muss sich mit detaillierten Analysen, wie beispielsweise in Leipzig mit einem "Lebenslagenreport", beschäftigen, um auf solider Faktenbasis zu arbeiten. Die Entwicklung in der Stadt bedarf der Vernetzung aller stadtpolitischen Bereiche. Auch dies ist bereits angesprochen worden. Da geht es nicht nur um Wohnungsbau insgesamt, nicht nur um Stadtentwicklung im klassischen Sinn oder wie er vor zehn, 15 Jahren verstanden wurde. Da sind vielmehr die kulturelle, die soziale, die infrastrukturelle, aber auch die demokratische Entwicklung , die Entwicklung des politischen Systems einer Stadt, die finanziellen Auswirkungen und die Vernetzung zu den benachbarten Städten, zu den Regionen mit zu bedenken. Das Programm Soziale Stadt ist nach meinem Kenntnisstand das erste Programm, das diese Vernetzungen schaffen will, das erste, mit dem es möglich wird, dass unterschiedliche Bereiche gefördert werden und so auch ein Zusammenklang von finanzieller Unterstützung in diesen unterschiedlichen stadtpolitischen Bereichen erreicht wird. Ich möchte mich an dieser Stelle für diesen hervorragenden Ansatz bedanken. Wir müssen die Programme, die existieren, zusammenführen: Stadtumbau Ost, Soziale Stadt, Städtebauförderung, und es gibt vieles andere, denken Sie an die europäische Ebene und Urban 2. All dies gehört vernetzt, miteinander verzahnt, um noch mehr Synergien zu erreichen, wie es heutzutage heißt. Auch hier bietet das Programm Soziale Stadt eine Plattform, auf der wir aufsetzen können. Wir brauchen das Engagement von vielen. In Leipzig versuchen wir dies, indem wir im Leipziger Osten ein Stadtentwicklungsprogramm "Stadterneuerung und Wohnungsbau" aufgelegt haben - zusammen mit einem Forum "Soziale Stadt - Leipziger Osten" unter Beteiligung aller, die an diesem Stadtteil Interesse haben. Schließlich haben wir Gelder hinein gegeben und ein Quartiermanagement eingerichtet. Wir brauchen die Beteiligung von Wohnungsgenossenschaften, von Eigentümern. Es gibt in Leipzig einen Pakt der Vernunft, in dessen Rahmen versucht wird, die verschiedenen Interessen zu bündeln; so kommt es beispielsweise nicht dazu, dass eine Wohnungsbaugesellschaft wartet, dass die andere "in die Knie" geht, damit sie dessen Mieter in den eigenen Häusern begrüßen kann. Wir brauchen solide finanzielle Unterstützung. Wir anerkennen sehr, dass es einen deutlichen Sprung in der Unterstützung der Städte durch Programme der Bundesregierung gibt. Dies ist einmalig und schafft uns den Freiraum, den wir brauchen. Es geht darum, diese Leistung auch über den Solidarpakt 2 zu verstetigen - ein Instrument, das erstaunlicherweise in der Versenkung verschwunden ist und derzeit nicht mehr im öffentlichen Bewusstsein vorkommt. Wir haben dann Sicherheit in Ostdeutschland bis zum Jahr 2020. Dies ist eine Plattform, auf der wir mit den Millionen- und Milliardenbeträgen arbeiten können, die notwendig sind, um wirtschaftliche Entwicklung, Forschungsentwicklung, infrastrukturelle und ökologische Entwicklung in diesen Städten voranzutreiben. Wir werden neben den so genannten Leuchttürmen, die wir in oder mit einigen Städten errichten, auch innerhalb der Problemstadtbezirke Cluster bilden müssen, die in ihrer Summe funktionieren und mit einer richtigen Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Geschäften, Ökologie, Freizeit in die Viertel ausstrahlen. Davon konnte ich mich auf einer Reise durch die USA überzeugen, die mich auch in ehemalige Elendsviertel wie die New Yorker Bronx und Harlem führte. Wir brauchen - und damit möchte ich zum Ende kommen - die richtigen Vergleiche und die richtigen Zeitmaßstäbe, wenn es um die Entwicklung unserer Städte geht. Wir brauchen finanzielle Sicherheit. Meine Frankfurter Kollegin Petra Roth wird sicherlich noch einmal die Gemeindefinanzreform ansprechen. Aber wir brauchen auch den vernünftigen Blick nach Osten. Als jemand, der aus Leipzig kommt, weiß ich: Ich stünde nicht hier, wenn es nicht die Runden Tische in Gdansk, die Aktivitäten in Prag, in Budapest, in Moskau gegeben hätte. Und so schließe ich mit der hoffnungsfrohen Aussage, dass es doch gelingen müsste, in der größer werdenden Europäischen Union bei der Entwicklung der Städte nicht nur auf die eigenen Probleme zu schauen: Wir wollen diejenigen, die zu uns kommen sollen und wollen, begrüßen und nicht vergessen, dass es ihnen in vielerlei Hinsicht noch wesentlich schlechter geht als uns. |
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Quelle: Kongress Die Soziale Stadt - Zusammenhalt Sicherheit, Zukunft, Dokumentation der Veranstaltung am 7. und 8. Mai 2002 in Berlin, Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin, November 2002 |